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Es gibt nur eine Kraft

Herr Toigo, welchen Stellenwert hat die Kraft im Alltag des Menschen?
Unser Leben wird von der Schwerkraft diktiert. Sie zieht uns selbst im Sitzen gegen den Erdmittelpunkt hin und wir müssen immer und überall gegen die Schwerkraft ankämpfen. Dazu brauchen wir unsere Muskeln, ohne sie könnten wir uns nicht fortbewegen. Die Kraft ist die Grundlage jeder Bewegung.

Welche Form von Kraft ist für den Menschen die wichtigste?
Es gibt keine Wertung, denn der Begriff „Kraft“ orientiert sich an der Physik. Es gibt nur eine Kraft, und die wird in Newton bemessen. Begrifflichkeiten wie Explosivkraft, Schnellkraft oder Kraftausdauer sind daher – im Unterschied zur Gravitationskraft oder Zentripetalkraft – falsch.

Aber es besteht doch ein Unterschied, ob ein Muskel eine Stunde lang ausdauernd auf dem Velo arbeiten muss oder ein einziges Mal möglichst viel Gewicht heben soll, oder?
Der Unterschied punkto Kraft liegt in der relativen Höhe der Kraft, wie viel Mal und mit welcher Frequenz diese Kraft im Zeitverlauf aufgewendet werden muss und wie schnell die Kraft bei den Bewegungen jeweils entwickelt wird. Anstatt „Schnellkraft“ sollte man daher „Geschwindigkeit der Kraftentwicklung“ oder Impuls verwenden, wenn man die Schnelligkeit quantifizieren will. Notabene handelt es sich bei der durch Muskeln erzeugten Kraft um ein neuromuskuläres Erzeugnis. Neuronale Komponenten der Kraft beinhalten beispielsweise die Frequenz, mit der einzelne Muskelfasern aktiviert werden oder die intermuskuläre Koordination, also die zeitliche Abfolge der Aktivität verschiedener an der Bewegung beteiligter Muskeln. Muskuläre Komponenten umfassen beispielsweise die Muskelfasertypusverteilung und die Querschnittsdicken der einzelnen Muskelfasern. Man kann also nicht die „Schnellkraft“ trainieren, sondern die neuromuskulären Faktoren für eine schnelle Kraftentwicklung. Und wenn man eine submaximale Leistung möglichst lange aufrechterhalten will wie beim erwähnten Radfahren, dann ist eine hohe mitochondriale Dichte in den Muskelfasern entscheidend.

Kann man mit Krafttraining einen Muskel isoliert trainieren oder wird automatisch immer auch die neuronale Umsetzung geübt?
Beides. Herkömmliches Krafttraining ist ein praktischer Vorgang, bei dem eine willkürliche Bewegung stattfindet. Bereits nach 1-2 Wochen Training kann man an den Geräten oder Hanteln mehr Widerstand bewegen. Dieser Effekt ist primär durch neuronale Mechanismen bedingt. Obwohl der Prozess der Muskelquerschnittvergrösserung mit dem ersten Training eingeleitet wird – vorausgesetzt es wird richtig trainiert und die Proteinzufuhr stimmt – sind die Effekte des Trainings auf die Zunahme des Muskelquerschnitts erst nach ein paar Wochen messbar. Die neuronalen Effekte sind aber bewegungsspezifisch, d.h. beim Krafttraining auf einer Beinpresse <lernt> man primär, beide Beine und Hüften zeitgleich in der vorgegebenen Winkelposition zu strecken – es ist daher neuronal kaum ein Übertrag vom Beinstrecken an der Maschine zur Tretbewegung beim Radfahren zu erwarten. Umgekehrt wird aber sicher ein Teil der Muskelfasern, die bei der Beinpresse trainiert werden auch beim Radfahren eingesetzt. Daher sind die muskulären Trainingseffekte im Unterschied zu den neuronalen Trainingseffekten übertragbarer.

Ausdauersportler zeichnen sich im Vergleich zu schnellkräftigen Sportlern nicht durch riesige Muskelberge aus. Wie hängen Leistung und Kraft im Ausdauersport zusammen?
Als Formel gib es eine klare Definition: Leistung in Watt = Kraft x Geschwindigkeit. Oder Leistung = Arbeit durch Zeit. Für Ausdauersportler entscheidend sind die grösstmögliche Leistung, die möglichst lange im Stoffwechselgleichgewicht aufrechterhalten werden kann, sowie die Arbeitskapazität oberhalb dieser kritischen Leistung, d.h. im ‚roten‘ Bereich. Die externe Leistung beim Fahrradfahren hängt von der Kraft auf die Pedale wie auch von der Trittfrequenz ab. Wie lange ein Sportler diese submaximale Leistung aufrechterhalten kann, wird von verschiedenen kardiovaskulären, muskulären und psychobiologischen Faktoren wie zum Beispiel der Motivation bestimmt.

Was bedeutet das für Ausdauersportler in Bezug aufs Krafttraining? Sollen sie überhaupt an Geräten Kraft trainieren?
Krafttraining macht auch für Ausdauersportler Sinn, denn dadurch kann die Fähigkeit, im <roten> Bereich zu fahren, gesteigert werden. Krafttraining kann auch gezielt dazu verwendet werden, um den Muskel vor einer Ausdauer-Trainingseinheit zu ermüden. Dadurch kann man Trainingsvolumen zugunsten von Regenerationszeit sparen. Wichtig ist, dass das Krafttraining sinnvoll in die Trainingsplanung integriert wird und dass es durch eine sportartspezifische Umsetzung ergänzt wird.

Gibt es keine allgemeingültigen Regeln?
Nein. Das Trainings- und Ernährungsprogramm muss in der Gesamtheit durch Wissenschaftler evaluiert und die Athleten müssen wissenschaftlich getestet werden, bevor Empfehlungen erfolgen können. In der Praxis ist es aber häufig so, dass Trainingsempfehlungen oder -vorschriften primär auf Annahmen oder persönlichen Erfahrungen beruhen, die auf keiner wissenschaftlichen Basis stehen. Das ist ein Problem, denn bei Annahmen und persönlichen Erfahrungen ist es sehr schwierig, Ursache und Wirkung in einen Kausalzusammenhang zu bringen. Es lohnt sich daher, die gängige Trainingspraxis immer wieder zu hinterfragen, auch wenn es heisst „wir haben das schon immer so gemacht“ oder „der x-fache Weltmeister XY trainierte auch so“. Viele Triathleten oder auch Radfahrer trainieren zum Beispiel das einbeinige Radfahren, weil sie ihre Zugphase und ihren runden Tritt trainieren möchten. Doch erreichen sie das wirklich damit? Wie messen sie die Erreichung dieses Ziels? Über das „Gefühl“? Gefühle können täuschen, wie ein Blick auf die hiesige Scheidungsquote zeigt. In der Praxis müssen Radfahrer ja auch nicht einbeinig fahren, sondern immer beidbeinig. Wenn sie also einbeinig fahren, üben sie eine Bewegung, die sie so nicht brauchen.

Zurück zum Kraftaufbau eines Muskels. Wie sieht für Hobbysportler ein sinnvolles Krafttraining aus?
Der Begriff „Krafttraining“ ist ungenau und lässt daher viel Interpretationsspielraum zu. Manche Ausdauerathleten verstehen darunter, mit schweren Gängen bergauf zu fahren, während Bodybuilder darunter primär das Stemmen von Gewichten zwecks Aufbaus von Muskelmasse verstehen. Je nach Sportart liegt das Ziel daher eher auf dem NEUROmuskulären oder mehr auf dem neuroMUSKULÄREN Aspekt der Kraft. Wenn das Ziel z.B. Vergrösserung der Muskelmasse ist, die sogenannte Muskelhypertrophie, dann sollte der Muskel beim Training in kurzer Zeit – als Richtwert gelten 1-2 Minuten – in die vollständige willkürliche Erschöpfung getrieben werden. Dies bedeutet, dass der Trainingswiderstand so gewühlt werden muss, dass er bei anatomisch korrekter, langsamer und kontrollierter Bewegungsausführung irgendwann zwischen diesen 1-2 Minuten nicht mehr von der Stelle bewegt werden kann. Weiter soll das Training progressiv gestaltet sein. Wenn in der ersten Trainingseinheit eine Spannungsdauer von 1 Minute erreicht wurde, so sollte in der nächsten Trainingseinheit versucht werden, diese Spannungsdauer zu übertreffen. Und sind beispielsweise 1,5 Minuten Spannungsdauer erreicht, kann der Trainingswiderstand dann um die nächstkleinste Einheit gesteigert werden, was die Spannungsdauer dann wieder auf rund 1 Minute reduziert. Dieser Prozess wird wiederholt. Pro Woche machen 1-2 intensive Trainingseinheiten für denselben Muskel Sinn.

Wie viele Wiederholungen braucht es in etwa?
Die Anzahl Wiederholungen hängt bei gegebener Spannungsdauer von der Bewegungsgeschwindigkeit ab. Eine Wiederholung besteht aus einer konzentrischen, isometrischen und exzentrischen Bewegungsphase. In allen drei Phasen sollte der Muskel Kraft produzieren und ein Kraftabfall möglichst vermieden werden. In der konzentrischen Phase verkürzt sich der Muskel, in der isometrischen Phase bleibt die Gesamtlänge des Muskels unverändert, während in der exzentrischen Phase die Muskellänge wieder zunimmt und der Muskel aktiv gedehnt werden sollte. Wenn man also je 4 Sekunden für die konzentrische und exzentrische Phase und 2 Sekunden für die isometrische Phase verwendet, dann gibt das 10 Sekunden pro Wiederholung. Bei einer Spannungsdauer von 1,5 Minuten ergibt das neun Wiederholungen. Es ist empfehlenswert, sich darauf zu konzentrieren, den Muskel in einem Satz komplett zu erschöpfen und verschiedene Übungen für dieselbe Muskelgruppe auszuführen, als dieselbe Übung mehrmals abzuspulen. Meine Beobachtung in der Praxis ist, dass die wenigsten Personen einen Übungssatz richtig ausführen. Das hat mit der damit verbundenen höheren Schmerzempfindung zu tun wie auch mit persönlich vorgefassten, wissenschaftlich nicht erhärteten Ansichten, z. B. dass mehr Sätze derselben Übung auch mehr Muskelwachstum bringen würden.
l0 Sekunden Übungsausführung tönen langsam und anstrengend. Wieso muss es so langsam sein?
Beim Training zur Muskelquerschnittvergrösserung sollte die Bewegung langsam und flüssig erfolgen, sodass der Trainingswiderstand keinen Schwung erhält. Erhält er durch eine „explosive“ Kraftanwendung viel Schwung, so bewegt er sich eigendynamisch – der Trainierende muss folglich weniger Kraft aufwenden, was zwischenzeitlich wieder zu einer Derekrutierung von motorischen Einheiten führt. Zudem steigt das Verletzungsrisiko mit zunehmender Bewegungsgeschwindigkeit. „Die“ beste Bewegungsgeschwindigkeit gibt es nicht. Als Richtwert aber eignet sich der erwähnte Bewegungsrhythmus von rund 4 Sekunden konzentrisch, 2 Sekunden  isometrisch und 4 Sekunden exzentrisch. Ein Spezialfall stellt bezüglich der Bewegungsgeschwindigkeit ein Hypertrophietraining dar, bei dem ausschliesslich oder vorwiegend exzentrische Muskelkontraktionen – sogenanntes „Negativtraining“ – ausgeführt werden. Hier kann zu Beginn der Übung der Trainingswiderstand sehr langsam abgebremst werden. Am Ende der Übung – zum Zeitpunkt der Muskelerschöpfung – kann aufgrund der Muskelermüdung die Bewegung dann kaum noch kontrolliert werden und der Widerstand gelangt beinahe ungebremst in die Ausgangsposition zurück. Folglich kann die Spannungsdauer für eine einzelne exzentrische Kontraktion stark variieren, zu Beginn der Übung ist sie sehr lang, rund 10 Sekunden, zum Schluss aber nur noch sehr kurz.

Wie viel Krafttraining pro Woche macht Sinn?
Das kommt auf die individuelle Situation an. Generell kann man sagen, dass eine harte Beanspruchung desselben Muskels ein- bis zweimal pro Woche reicht.

Darf oder soll man Kraft- und Ausdauertraining zusammenlegen?
Wenn ein und derselbe Muskel und Ausdauertraining gleichzeitig, d.h. innerhalb von Minuten oder ein paar Stunden, ein Kraft- und Ausdauertraining erfährt, ist die Aktivierung des Muskelwachstumsprozesses im Vergleich zum Krafttraining allein gebremst. Die neuronale Komponente der Kraft wird aber ähnlich gut trainiert. Ausdauerathleten, die zwar mehr „Kraft“, aber nicht unbedingt dickere Muskeln wollen, können daher von einem solch kombinierten Training profitieren. für Leute, die ihre Oberschenkelmuskelmasse maximal steigern wollen, ist eine solche unmittelbare Kombination eher ungünstig. In diesem Fall sollte das Ausdauertraining für den soeben auf Muskelhypertrophie trainierten Muskel auf einen anderen Tag verlegt werden.

Welchen Grad an Muskeltraining braucht es, um an Kraft zuzulegen?
Ein dreimonatiges Bizepstraining resultiert bei vorausgehend untrainierten Männern im Durchschnitt in einer 20-prozentigen Muskelquerschnittszunahme. Der Effekt ist aber individuell sehr unterschiedlich. Es gibt solche, die legen in derselben Zeitperiode 0 %, andere bis 50% zu.

Warum? Weil viel in den Genen steckt und gar nicht vom Training abhängig ist?
Es steckt tatsächlich viel in den Genen. Im Ausdauersport liegt der Einfluss von erblichen Faktoren bei geschätzten 50 %. Bei der Anpassungsfähigkeit punkto Muskelhypertrophie und Kraft liegt der geschätzte Anteil der genetischen Komponente sogar bei rund 70%. Bei Personen, die mit einer sehr starken Anpassung auf das Training reagieren, kann man darum nicht sagen, wie viel des Trainingserfolgs effektiv mit der Trainingsmethode zu tun hat. Die sehen vielleicht „trotz“ des praktizierten Trainings so aus. Darum macht es grundsätzlich auch keinen grossen Sinn, die Trainingsprogramme solcher „High-Responders“ kopieren zu wollen mit der Wunschvorstellung, das Resultat würde immer dasselbe sein.

Wie altersabhängig ist Kraft?
Ab 40-50 Jahren nimmt die Muskelmasse bei Untrainierten im Durchschnitt ab. Dem kann man aber mit Hypertrophietraining und mit angepasster Proteinzufuhr entgegenwirken. Wenn rund 65-jährige Männer und Frauen mit progressivem Krafttraining beginnen, so können sie innert vier Monaten die durchschnittliche Muskelfaserquerschnittsgrosse von Typ 2 Muskelfasern auf das Niveau von rund 30-jährigen untrainierten Personen bringen.

Wie schwer sind die Muskeln im Vergleich zum restlichen Körper?
Bei einem gesunden jungen Mann beträgt die reine Muskelmasse rund 40-60 % der Körpermasse. Der Magermasse-Index – definiert als Magermasse in Kilogramm geteilt durch die Körperlänge in Metern im Quadrat – beträgt bei einem sportlich aktiven jungen Mann rund 19kg/m2, bei einem Spitzenbodybuilder bis zu 29 kg/m2.

Wie wichtig ist die Ernährung für einen Muskelaufbau?
Damit ein Muskel an Masse zunehmen kann, muss die Stoffwechselgrundlage dafür gegeben sein: Die Netto-Protein-Bilanz muss positiv sein. Dies bedeutet, dass die Muskelaufbaurate grösser sein muss als die Muskelabbaurate. Nur dann wird Protein im Muskel eingelagert und der Muskel wächst.

Und wie wird diese Muskelaufbaurate reguliert?
Einerseits durch Hypertrophietraining, andererseits durch essenzielle Aminosäuren, wobei die beiden Reize synergistisch wirken. Dies bedeutet, dass durch eine zeit- und dosisoptimierte Zufuhr von essentiellen Aminosäuren der Effekt von Training potenziert werden kann.

Aminosäuren sind Teile von Proteinen. Sie empfehlen demnach eine Proteineinnahme nach einem Krafttraining?
Ja, und zwar knapp 20 Gramm Protein sofort und noch einmal etwa eine Stunde später. Die Proteinsyntheserate steigt nach dem Training an. Da macht es Sinn, den Anstieg zusätzlich mittels Aminosäuren zu fordern. Wichtig: Bei Erwachsenen erfolgt ohne adäquates Training kein Muskelwachstum. Es bringt daher rein gar nichts, Unmengen an Protein zu futtern. Man nimmt davon höchstens an Fett zu. Auch nach dem Training bringt eine übermässige Proteinzufuhr nicht mehr Effekt auf die Muskelproteinsynthese. Im Gegenteil – die Aminosäurenoxidation kann angeregt werden. 100 Gramm auf einmal kann der Muskel nicht verwerten. Mehr ist eben nicht immer gleich besser. Das gilt sowohl fürs Training wie auch für die Proteinzufuhr. Bei der Proteinzufuhr ist insbesondere das Timing, die Menge Protein pro Einnahmezeitpunkt und die Anzahl Einnahmen pro Tag wichtig.

Mit welchen Nahrungsmitteln kann man sich einfach wertvolles Protein zuführen?
Mit Milch zum Beispiel. Oder mit Fleisch, Magerquark, Erbsen usw. Oder mit sinnvoll zusammengestellten kommerziellen Produkten. Die Wahl der Proteinquelle richtet sich nach Praktikabilität, persönlichen Vorlieben und physiologischen Überlegungen. Bei Fleisch dauert es vergleichsweise lang, bis die Aminosäurenkonzentration im Blut ihr Maximum erreicht, während die Aminosäuren beim Proteinshake am schnellsten für den Muskel verfügbar sind.

Quellen: Interview: Andreas Gonseth, fit4life